Es gibt wohl kein Thema, das mich die letzten sechzehn Jahre mehr beschäftigt hat, als dieses Thema. Im Grunde geht es um eine simple Frage: «Muss ein Christ allen Menschen vergeben?» Würde man eine Umfrage starten, so würden wohl die Mehrheit diese Frage mit einem deutlichen «Ja» beantworten. Zumindest war das die eindeutige Tendenz, wenn ich die Leute darauf ansprach. Ich war übrigens selber sehr lange Zeit davon überzeugt. Schliesslich wurde es auch so in der Gemeinde gesagt, die ich früher zusammen mit meinen Eltern besuchte. Heute bin ich davon nicht mehr überzeugt und ich will euch auf eine Reise mitnehmen, warum ich das heute anders sehe. Dabei geht es mir weder um Rechthaberei, noch darum etwas völlig Neues zu begründen, auf das noch niemand vor mir gekommen wäre. In gewissen Büchern, Kommentaren und Lexikas zur Bibel wird durchaus darüber geschrieben. Es scheint mir nur, dass es manchmal zuwenig im Alltag zur Sprache kommt.

Steht es nicht so geschrieben?

Der eine oder andere wird jetzt gleich einwenden: Aber steht es nicht so geschrieben, dass wir allen Menschen vergeben müssen? Es geht dabei um eine Stelle in der Bergpredigt (Matthäus-Evangelium Kapitel 5-7). In diesem berühmten Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte und das wir auch als das «Vater unser» bezeichnen, sagt Jesus am Ende:

Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer Vater im Himmel euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater ´im Himmel` euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Der Fall scheint doch ziemlich klar zu sein, oder etwa nicht? Hier haben wir es doch schwarz auf weiss vorliegen. Ich werde später nochmals auf diese Stelle zurückkommen. Jetzt ersteinmal möchte ich darauf eingehen, warum ich mir überhaupt eine solch scheinbar unnütze Frage stellte, wenn es doch so eine solche Stelle wie diese gibt.

Der Grund für meine Recherche

Was mich ins Nachdenken gebracht hat, war eine Stelle im ersten Johannesbrief, dort schreibt Johannes in 1. Johannes 1,8-9:

Wenn wir behaupten, ohne Sünde zu sein, betrügen wir uns selbst und verschließen uns der Wahrheit. Doch wenn wir unsere Sünden bekennen, erweist Gott sich als treu und gerecht: Er vergibt uns unsere Sünden und reinigt uns von allem Unrecht, ´das wir begangen haben`.

Es geht im Grunde um die Sünde und wie wir damit umgehen sollen. Wenn wir sie verschweigen oder gar leugnen, dann betrügen wir uns nur selbst, schreibt Johannes. Doch wenn wir unsere Sünden uns eingestehen, diese bekennen und die Sache ans Licht bringen, dann erweist sich Gott als treu und gerecht und vergibt uns unsere Sünden. Das war mir eigentlich schon klar. Auch damals als Kind. Ich wusste, dass wir Gott um Vergebung bitten müssen, damit er uns vergibt. Doch was hat das jetzt damit zu tun, ob wir allen Menschen vergeben müssen? Ich meine es hat jede Menge damit zu tun:

  • Gott vergibt uns, wenn wir unsere Sünden vor ihm bekennen. Das heisst im Umkehrschluss, dass er nicht jedem vergeben kann. Wenn da Schuld nicht bekannt wird, dann kann er uns die Schuld auch nicht einfach so erlassen, er kann sie uns nicht vergeben.
  • Auf der anderen Seite erwartet Jesus von uns aber, dass wir unabhängig davon Vergebung aussprechen, auch wenn eine Schuld gar nicht eingesehen wird? Wird da nicht mit unterschiedlichem Mass gerechnet?

Diese Frage beschäftigte mich plötzlich. Ich muss dazu allerdings auch sagen, dass für mich zuvor ein jahrelanger Leidensprozess mit diesem Thema verbunden war. Ich sah mich immer in der Pflicht zu vergeben. Über Jahre wurde ich in der Schule ausgegrenzt. Im Sportunterricht wurde ich in den meisten Fällen als letzter gewählt. Auch sonst sind viele Dinge vorgefallen. Und ich habe, wie sich das gehörte, immer und immer wieder vergeben. Schliesslich soll man ja auch nicht zählen, wie oft man jemandem vergeben hat. Also diese Frage beschäftigte mich wirklich, weil damit sehr viel persönliches verbunden war. Doch wollte ich wissen, was die Bibel zu diesem Thema zu sagen hat. Ich wollte meine Meinung nicht auf einem momentanen Gefühl abstützen. Die Frage stand nun im Raum: Erwartet Gott etwas von mir, das er aber selber ganz anders praktiziert? Konkret formuliert: Erwartet er von mir, dass ich immer vergebe und er vergibt nur dann, wenn Menschen ihre Schuld einsehen? Wie sieht das in zwischenmenschlichen Beziehungen aus?

Ich werde dabei besonders auf zwei Themen eingehen:

  1. Die Vergebung
  2. Die Feindesliebe

Die Vergebung

Die Kreise erweitern: Die Vergebung in den Evangelien

Meine Recherche begang ich erst einmal nicht vorne in Genesis, sondern im Matthäus-Evangelium. In der Bibelschule hatte ich gelernt, ein Thema immer zuerst einmal im näheren Kontext zu betrachten und von dort aus die Kreise weiter zu ziehen. Weil nun die deutlichste Stelle, dass wir allen Menschen vergeben müssten im Matthäusevangelium und im Markusevangelium stand, musste ich mit meiner Recherche in den Evangelien beginnen. Was sagt Jesus sonst noch zu diesem Thema bezüglich der Vergebung zwischen uns Menschen? Wird das generell untermauert, dass wir allen Menschen vergeben müssen, obwohl Gott nur jenen vergibt, die seine Vergebung auch wollen? Oder gibt es hier auch andere Stellen, welche das Verständnis bezüglich der Vergebung in ein anderes Licht rücken könnten?

Zusammenleben innerhalb der Gemeinde

Die nächste Stelle im Matthäus-Evangelium, an der Jesus mit deutlichen Worten über das Thema Vergebung spricht, finden wir in Matthäus 18.

Im Grunde geht es dabei um das Zusammenleben innerhalb der Gemeinde. Es ist das zweite Mal, dass Jesus von der Gemeinde spricht. Die erste Stelle war im Bezug auf Petrus: «Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen (Matthäus 16,18)». Dabei geht es darum, wie wir mit einem Bruder verfahren sollen, den wir sündigen sehen (Matthäus 18,15-18):

»Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und stell ihn unter vier Augen zur Rede. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er nicht auf dich, dann geh mit einem oder zwei anderen noch einmal zu ihm, denn ›jede Sache soll aufgrund der Aussagen von zwei oder drei Zeugen entschieden werden‹. Will er auch auf diese nicht hören, dann bring die Sache vor die Gemeinde. Will er auch auf die Gemeinde nicht hören, dann soll er in deinen Augen ´wie ein gottloser Mensch` sein, wie ein Heide oder ein Zolleinnehmer. Ich sage euch: Alles, was ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein.»

Hier kommt zwar das Wort Vergebung nicht direkt vor, aber zumindest indirekt mit der Aussage: „Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.“ Dass diese Aussage, so verstanden wurde, zeigt dann auch die Reaktion von Petrus (Matthäus 18,21).

Doch die Stelle macht weitere Aspekte deutlich. Es geht nicht einfach darum, eine Sache immer gleich als erledigt zu betrachten. Wenn sich dieser Bruder unter vier Augen nicht zurückgewinnen lässt, soll man weitere Schritte unternehmen. Irgendwie scheint das hier nicht so ganz aufzugehen mit diesem ständigen vergeben, wenn eine Person nicht zur Einsicht kommt. Will er auf die Gemeinde nicht hören, soll man ihn gar als Heide, als ungläubigen Menschen betrachten.

Binden und lösen

Und wir sollten nicht ausser Acht lassen, was Jesus hier der Gemeinde für eine Autorität gibt. Am Ende sagt Jesus: «Was ihr auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein. Was ihr auf der Erde lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.» Eine nicht ganz leicht verständnliche Aussage, die Jesus bereits Petrus gegenüber verwendet hat (Matthäus 16,19). In diesem Kontext verstehe ich es so: Die Gemeinde bekommt die Autoriät die Sünden zu vergeben, aber eben auch, sie dem entsprechenden Menschen nicht zu vergeben, weil da keine Einsicht vorhanden ist. Mir ist in verschiedenen Diskussionen aufgefallen, dass man gerne davon spricht, dass man eine emotionale Bindung zu einem Täter durch die Vergebung lösen müsste. Mit dem lösen einer solchen Bindung bin ich einverstanden, doch nicht damit, dass dies durch die Vergebung geschieht. In diesem Abschnitt ist es ja genau umgekehrt. Die Einsicht des Bruders führt dazu, dass wir diesen zurückgewinnen – mit anderen Worten: durch die Vergebung wird die Verbindung wieder hergestellt. Durch die Vergebung löst man sich nicht von einem Täter, sondern es wird überhaupt erst möglich, wieder miteinander in Gemeinschaft zu leben. Hier wird die Vergebung oft missbräuchlich verwendet. Wenn Gott uns vergibt, dann verbindet er sich wieder mit uns, er löst sich nicht von uns. Wir kommen in eine neue Stellung vor ihm. Wir waren Fremde, jetzt sind wir seine Kinder. Es gäbe so viel anzufügen, was die Vergebung bewirkt, aber es geht hier immer um mehr Nähe.

Dieses binden und lösen im Abschnitt ist anders zu verstehen. Mit dem lösen verstehe ich es so, dass hier die Situation gelöst wird. Die Dinge werden bereinigt und dazu braucht es auch die Einsicht von demjenigen, der sich hier versündigt hat. Sonst nehmen wir die Worte, die er zuvor gesagt hatte, nicht wirklich ernst. Es geht dabei aber weit mehr als um eine emotionale Bindung. Hier geht es darum, dass die Dinge in Orndung gebracht und damit gelöst werden.

Wenn hingegen eine emotionale Bindung gelöst wird, distanziert man sich in der Regel mehr von einem Täter, der eben seine Schuld nicht einsehen will. Das ist hier im Kontext aber nicht gemeint. Auf diesen Loslösungsprozess von einem Opfer zum Täter werde ich noch im Kapitel über die Feindesliebe eingehen. An dieser Stelle möchte ich nur mal festhalten, dass dieser Prozess in diesem Abschnitt unter das fällt, was Jesus unter „binden“ erwähnt.

Mit dem Wort lösen ist meiner Meinung nach die Vergebung gemeint. Im Umkehrschluss denke ich aber, kann beim Wort binden nicht die Vergebung gemeint sein. Es geht vielmehr darum, dass hier die Autorität gegeben wird, Sünden nicht zu vergeben. Wer mit diesem Gedanken seine Mühe hat, der lese mal was Jesus in Johannes 20,22-23 sagt:

»Empfangt ´den` Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr sie nicht vergebt, dem sind sie nicht vergeben.«

Ganz wörtlich heisst es, wem ihr sie behaltet, dem sind sie behalten. Jetzt können wir aber nicht sagen, dass das eine eine gottgefällige Handlung ist, die andere Handlung aber Gott missfällt. Jesus haucht hier seine Jünger an und sagt: Empfangt den Heiligen Geist! Er gibt ihnen also den Geist und damit die Autorität zu vergeben bzw. nicht zu vergeben.

Ich weiss nicht wie es dir geht, aber ich habe noch nie eine Predigt zu dieser Stelle gehört und ich war doch schon in so einigen Gemeinden. Ist uns diese Stelle zu unbequem? Müssten wir vielleicht unser Verständnis von Vergebung neu überdenken? Ist uns das alles zu unbequem? Haben wir vielleicht Angst, dass es am Ende noch ein Widerspruch zu dem sein könnte, was Jesus in der Bergpredigt sagt?

Die Frage von Petrus

Doch nun weiter im Matthäus-Evangelium. Mit diesen Worten über den Bruder, der sündigt hat Jesus bei Petrus eine Frage ausgelöst.

»Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er immer wieder gegen mich sündigt? Siebenmal?«

Wahrscheinlich dachte sich Petrus bei der Frage, ob sieben Mal zu vergeben ausreichend sei, dass das schon ziemlich viel ist. Doch Jesus gab ihm zur Antwort:

»Nein, nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal!«

Noch ein kleiner Exkurs: Bei manchen Übersetzungen steht hier „siebzigmal siebenmal“. Diese zwei Wörter ἑβδομηκοντάκις ἑπτά, welche dort im griechischen Text stehen, müsste man wörtlich mit siebzigmal sieben übersetzen. Doch was ist damit gemeint? Ist es eine Mulitplikation mit der Lösung 490-mal? Dann fehlt eigentlich bei der sieben im Grunde noch ein mal, das bei den Übersetzungen noch eingefügt wird. Handelt es sich um eine Addition mit dem Resultat siebenundsiebzigmal? Dann fehlt uns ein und zwischen diesen beiden Wörtern. Es gibt jedoch einen Hinweis im Alten Testament, der darauf hindeutet, was gemeint sein könnte. In 1. Mose 4,24 steht:

Ein Mord an Kain – so hat es Gott bestimmt – verlangt als Rache sieben Menschenleben; für Lamech müssen siebenundsiebzig sterben!

Der hebräische Ausdruck dort שִׁבְעִ֥ים וְשִׁבְעָֽה bedeutet ganz klar siebenundsiebzig. Die beiden Wörter „sieben“ und „siebzig“ werden mit einem hebräischen „we“ (und) verbunden. Die Übersetzung des Alten Testaments in die griechische Sprache verwendet dort den gleichen Ausdruck, den dann auch Matthäus verwendet. Auch in der Septuaginta fehlt demnach das und. Wahrscheinlich knüpfte Jesus an dieser Stelle mit Lamech und Kain an. Doch statt der Rache und der Vergeltung, dreht er diese Schriftstelle um. Auf die siebenfache bzw. siebenundsiebzigfache Vergeltung fordert er die siebenundsiebzigfache Vergebung. Egal jedoch auf welche Übersetzung wir uns letztlich berufen, am Ende will uns Jesus sagen, dass wir nicht zählen sollen, wie oft wir jemandem bereits vergeben haben.

Diese Stelle wird jedoch gerne auch dafür ins Feld geführt, dass wir immer vergeben müssen. Dabei würde es, so wird es gerne behauptet, keine Rolle spielen, ob jemand sein Unrecht einsieht oder nicht. Doch wie ich bereits aufgezeigt hatte, müssen wir uns auch das was Jesus vorher sagt vor Augen halten und natürlich auch das was Jesus nachher sagt, dazu kommen wir gleich noch. Und im übrigen gibt es da ja noch eine Parallelstelle im Lukas-Evangelium und die lässt uns diese Aussage von Jesus wieder in einem leicht anderen Licht erscheinen.

Die Paralelle im Lukasevangelium

Wir machen nun einen kleinen Sprung ins Lukasevangelium. Hier wird zusätzlich etwas deutlich, was uns im Matthäus-Evangelium nicht gesagt wird. In Lukas 17,3 fehlt die Frage von Petrus und der Wortlaut ist leicht anders:

»Wenn dein Bruder sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er sein Unrecht einsieht, vergib ihm. Selbst wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: ›Ich will es nicht mehr tun‹, sollst du ihm vergeben.«

Jesus bezieht hier seine Aussage auf die tägliche Vergebung. Man solle bereit sein einem Bruder auch sieben mal am Tag zu vergeben. Doch noch etwas entscheidendes erwähnt hier Jesus: Selbst wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal am Tag wieder zu dir kommt und sagt: «Ich will es nicht mehr tun». Jesus sagt also nicht, dass wir einfach so vergeben müssen. Aus dem heiteren Himmel, nur damit wir wieder ein gutes Gefühl haben. Vergebung ist etwas was auf Gegenseitigkeit beruht. Der Schuldige sieht sein Unrecht und das heisst, dass wir ihm Vergeben sollen.

Das Gleichnis vom Schalksknecht

Doch wieder zürück ins Matthäus-Evangelium. Jesus ist nach der Antwort an Petrus noch nicht am Ende. Er fügt noch ein Gleichnis an, mit dem er seine Botschaft untermauert. Das Gleichnis ist bekannt unter dem Begriff Schalksknecht.

Ein König hat einen Diener, der ihm eine Unsumme an Geld schuldete. Er hätte noch so lange arbeiten können, er hätte diese Schuld wohl niemals begleichen können. Der König zieht ihn zur Rechenschaft und möchte ihn und seine Familie ins Gefängnis stecken und den Besitz dieses Knechts verkaufen. Doch der Knecht flehte und bittet den König um Geduld. Und was macht dieser König? Er erstreckt nicht die Frist, sondern erlässt ihm seine ganze Schuld. Daraufhin geht der Knecht raus und trifft dort auf einen anderen Diener, der zwar eine viel geringere, doch auch noch eine beachtliche Schuld vor ihm hatte. Auch dieser Diener bittet um Geduld und gebraucht die gleichen Worte wie zuvor der andere Knecht vor seinem König. Doch dieser zögert nicht und lässt ihn ins Gefänis werfen. Doch als das der König erfährt, lässt er keine Gnade mehr walten. Er hat ihm eine so riesige Schuld erlassen und dieser Knecht ist gegnüber dem andern Diener so unbarmherzig. So geht das nicht.

Am Ende fügt Jesus an:

So wird auch mein Vater im Himmel jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von Herzen vergibt.

Wenn es um die Frage geht, ob die Vergebung ein Bekennen der Schuld voraussetzt, dann stellen wir fest, dass Jesus genau das in diesem Gleichnis erwähnt. Beide Knechte sahen ihre Schuld ein. Sie stritten nichts ab und beide flehten um Geduld, Nachsicht und Gnade. Der König wäre völlig im Recht gewesen, genau so zu handeln, wie er es angekündt hatte. Er hätte den Diener ohne weiteres ins Gefängnis werfen lassen können. Doch er handelt anders, er lässt Gnade vor Recht walten. Und genau das hätte diesen Knecht dazu veranlassen sollen, nun mit seinem Mitmenschen in der gleichen Weise umzugehen, zumal dieser Knecht seine Schuld ebenfals einsah und diese in keiner Weise abstritt.

Der König in diesem Gleichnis steht stellvertretend für Gott, der uns eine riesig grosse Schuld erläst. Die beiden Diener sind Menschen. Wie nun die einzelnen mit ihrer Schuld umgingen, da gibt es grundsätzlich keinen Unterschied. Beide wollten die Sache in Ordnung bringen. Der einzige Unterschied ist die Höhe der Schuld. Jesus geht nicht darauf ein, wie der Knecht hätte handeln sollen, wenn der Schuldige seine Schuld abgestritten hätte. Das Gleichnis zielt primär darauf ab, wie wir uns verhalten sollen, wenn jemand die Schuld einsieht. Es gibt da noch andere Stellen, die uns zeigen, wie wir verfahren können, wenn jemand seine Schuld nicht einsieht.

Die Parallele zum «Vater unser»

An dieser Stelle möchte ich auf das was Jesus in der Bergpredigt sagt zurückkommen.

Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer Vater im Himmel euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater ´im Himmel` euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Ich will diese Stelle in keiner Weise abwerten. Doch fällt mir auf, dass wenn wir diese Stelle nicht im gesamtbiblischen Kontext betrachten, meiner Meinung nach, völlig falsche Rückschlüsse gezogen werden. Eben, dass wir in der Pflicht stehen, jedem Menschen zu vergeben, egal ob dieser Mensch zu Einsicht kommt oder nicht. Jesus geht ja an dieser Stelle nicht näher darauf ein, was in seinem Sinne die Vergebung bedeutet, unter welchen Umständen und in welcher Weise diese praktiziert werden soll. Ich persönlich lege diese Stelle so aus: Wenn wir dort nicht vergeben, wo die Grundbedingungen erfüllt sind, die Jesus an anderen Stellen erwähnt, dann wird uns der Vater unsere Verfehlungen auch nicht vergeben.

Und noch ein Aspekt wird häufig ausser Acht gelassen. Zuvor heisst es in diesem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte:

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben haben, die an uns schuldig wurden.

Wir richten uns also in einer Bitte an den Vater. Auch hier ist ein Eingeständnis vorhanden, dass wir auf seine Vergebung angewiesen sind. Doch bei diesem „wie auch wir“ klammern dann viele die Bitte völlig aus, wenn es um diejenigen geht, die an uns schuldig geworden sind. Wir bitten also um Vergebung der Schuld, aber diese Bitte hat dann keine Relevanz, wenn es um denjenigen geht, der an uns schuldig geworden ist?

Wir müssen uns auch dessen bewusst werden, dass Jesus ja nicht in einen luftleeren Raum hineingesprochen hatte. Die Aussage „[…] wie auch wir denen vergeben haben, die an uns schuldig wurden“, müsste doch zumindest eine konkrete Frage auslösen: Wie bzw. auf welche Art und Weise haben denn die Zuhörer anderen vergeben? Hatten diese Zuhörer denn das Verständnis, dass man jedem Menschen vergeben müsste? Oder gab es für sie auch irgendwelche Bedingungen, an die sie ihr Verständnis von Vergebung knüpften. Die Zuhörer von Jesus waren Juden und sie beschäftigten sich sehr intensiv mit diesem Thema und das nicht nur rein theoretisch. Sie brachten Gott Opfer dar und es mussten dabei die besten Tiere sein. Tiere ohne einen Makel. Das kostete so einiges. Dieses Verständnis hatte auch Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. So sandte Jakob seinem Bruder Geschenke voraus, um seine guten Absichten zu bekunden und um sich mit ihm zu versöhnen. Sie hatten also alles andere als ein billiges Gnadenverständnis.

Leben in der Gemeinde

Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich noch zwei Dinge anführen, die das Leben innerhalb der Gemeinde betreffen:

Geht vielmehr freundlich miteinander um, seid mitfühlend und vergebt einander, so wie auch Gott euch durch Christus vergeben hat. (Epheser 4,32)

Auch dieser Vers wird gerne so gedreht, dass er das Zusammenleben mit allen Menschen betrifft und man versteht den Vers als Aufforderung allen Menschen zu vergeben. Doch Paulus spricht hier zur Gemeinde und bezieht seine Worte auf das Zusammenleben innerhalb der Gemeinde. Er sagt es so: Wir sind doch Glieder ein und desselben Leibes!

Die Gemeinde soll ein Ort sein, wo Vergebung gelebt wird. Wenn schon die Gemeinde zerstritten ist, wie können wir da als gutes Beispiel für diese Welt vorangehen?

Im Übrigen wird hier das Miteinander angesprochen, wir sollen einander vergeben. Auch hier geht es nicht um eine Einseitigkeit. Diesen Vers herbeizuziehen um in einer Opfer-Täter-Beziehung zur ständigen Vergebung aufzufordern, wird diesem Text nicht gerecht. Da geht es um Beziehungen, die tiefer sind und in denen man auf das gleiche Fundament – Jesus Christus – baut.

Und um keiner Einseitigkeit zu verfallen, müssen wir uns auch den Teil anschauen, den Jakobus zu diesem Thema beisteuert (Jakobus 5,16):

Darum bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.

Einander die Sünden zu bekennen, ist auch in der Gemeinde für den Heilungsprozess wichtig. Auch hier steht wiederum die Gegenseitigkeit im Vordergrund. Dabei geht es nicht einmal primär um die körperliche Heilung. Eine Gemeinde hat auf unterschiedlichen Ebenen Heilung nötig.

Die Feindesliebe

Doch wenn wir nun davon ausgehen, dass nicht vergeben werden muss, wenn ein Mitmensch nicht zur Einsicht kommt, bedeutet dies denn auf der anderen Seite nicht, dass wir ständig mit einem Rucksack voller Groll und Hass rumlaufen und uns diese Unversöhnlichkeit uns letztlich auffrisst und kaputt macht?

Einer, der davon überzeugt ist, dass wir allem Menschen vergeben müssen, schrieb in einem Artikel:

Mit der Vergebung lehnt man die Rache ab und erlässt die verdiente Strafe. Wenn mir jemand ein wertvolles Erbstück zerbricht, und ich vergebe ihm, dann habe ich den Verlust und der Schuldige ist frei.

Da muss ich sagen, trifft er absolut das, was die Vergebung letztlich ausmacht. Wir lehnen die Rache völlig ab, verzichten auf eine Strafe. Wir erlassen dem Gegenüber die Schuld und er ist frei. Wobei das Beispiel mit dem Erbstück nicht unbedingt das beste Beispiel ist. Manche Dinge sind unersetzlich, das stimmt, sie haben oft auch einen emotionalen Wert. Doch manchmal liegt auch einfach nur ein Sachschaden vor und natürlich kann ein Verursacher sich entweder selbst dazu verpflichtet sehen, den Schaden wieder gut zu machen, oder dazu verpflichtet werden. Und heute trägt ja einen solchen Schaden in der Regel eine Versicherung. Doch wir tragen mit der Vergebung dem andern sicher nichts mehr nach.

Wenn wir allerdings immer vergeben müssten, auch dann wenn unser Gegenüber keine Einsicht zeigt, dann bekomme ich persönlich mit so einigen Aussagen in der Bibel ein Problemen. Wie geh ich denn mit diesen Psalmisten um, die solche Sätze über ihre Feinde aufschrieben?

Du ´allein` wirst uns retten vor unseren Feinden, und alle, die uns hassen, stürzt du in Schande. (Psalm 44,8)

Wo bleibt bei diesen Psalmen, und es gibt eine Menge davon, der Verzicht auf Rache? Eine Kollegin meinte neulich bei diesem Thema um Vergebung und Feindesliebe, ob ich denn noch im Alten Testament leben würde? Natürlich nicht. Es gibt ja auch noch einige Stellen im Neuen Testament. Also dann mal was von Paulus (Römer 12,18-21):

Wenn es möglich ist und soweit es an euch liegt, lebt mit allen Menschen in Frieden. Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn ´Gottes`. Denn es heißt in der Schrift: »´Das Unrecht` zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben.« Mehr noch: »Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Ein solches Verhalten wird ihn zutiefst beschämen.« Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege Böses mit Gutem.

Hier sind wir in mitten dem was Jesus darunter versteht seine Feinde zu lieben. Klar wir sollen, so viel es an uns liegt mit allen Menschen in Frieden leben. Das wäre der idealste aller Fälle. Nun liegt es aber nicht immer an uns, dass wir mit anderen Menschen keinen Frieden haben. Wohlgemerkt, es geht in diesen Worten von Paulus nicht um Vergebung. Wie könnte es auch, wenn da noch von Feinden die Rede ist? Wie könnte es auch, wenn wir die Rache von Gott erwarten? Klar wir rächen uns nicht selbst, aber ein Verzicht ist hier nicht festzustellen. Vielmehr geben wir all diese Verletzungen, schlechten Gefühle, unsere Rachegedanken an Gott ab. Und hier kommt das ins Spiel, was Jesus wohl unter „alles was ihr auf der Erde binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein“ versteht. Wir binden diese Dinge und weil alles sichtbare auch eine unsichtbare Dimmension hat, binden wir diese Dinge gewissermassen an den Himmel. Der Repräsentant des Himmels ist allerdings Gott. Wenn wir an den Himmel denken, dann müssen wir an Gott denken. Wir binden diese Dinge also an Gott. Er ist letztlich der, welcher Gerechtigkeit schafft. Hier beginnt das, was wir als den emotionalen Loslösungsprozess bezeichnen. Der Schlüssel ist das Prinzip des Abgebens an Gott. Das hat nichts damit zu tun, dass eine Schuld bereinigt wäre. Diese Schuld kann beim Gegenüber immer noch bestehen. Er oder sie ist nicht wirklich frei bzw. befreit. Wir hingegen befreien uns von unseren negativen Gefühlen und Gedanken, weil wir sie Gott überlassen. Ich hatte in meinen jungen Jahren mit einigen Menschen zu tun, die sehr viele schlimme Dinge erlebt hatten, jahrelangen Missbrauch und Gewalt, Ablehnung in der eigenen Familie.

Mit solchen Aussagen, dass sie diesen Menschen vergeben müssten, obwohl sich diese Menschen nicht geändert hatten, tun wir ihnen unrecht. Da kommen dann solche Dinge dabei raus, wie es dieser Freund auf Facebook schrieb:

„Vergebung beginnt beim Verstehen des anderen. Jede Tat hat einen Grund. Wenn jemand unhöflich, grob, fordernd, ehrgeizig oder selbstsüchtig ist, sucht er vielleicht in seiner Verzweiflung Liebe und Zugehörigkeit.“

Ehrlich gesagt kann ich darüber nur den Kopf schütteln. Warum sollte es nun die Aufgabe eines Opfers sein, den Täter zu verstehen. Es mag ja sein, dass auch dieser sich nur nach Liebe sehnt, doch das interessiert doch jemand der als Opfer in einer Situation herausgegangen ist nicht. Mit einer solchen praktischen Theologie kann ich nur wenig anfangen. Da versucht man über das Verstehen der anderen Person irgendwie eine emotionale Nähe zu schaffen, als Opfer sollte man dann auch noch Mitleid empfinden. Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, warum manche meinen, ein Opfer müsste solche Bürden auf sich nehmen und noch Verständnis für gewisse Taten aufbringen, weil jede Tat ja einen Grund habe. Ganz ehrlich, der Wunsch nach Gerechtigkeit ist doch in solchen Situationen viel autentischer und ehrlicher. Gerade das tun wir, wenn wir die Rachegedanken nicht verschweigen, sondern sie an Gott abgeben. Wir sind vielleicht über eine Situation zornig und haben auch allen Grund dazu. Schliesslich heisst es im 1. Korinther 13 im Bezug auf die Liebe auch:

Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht, aber wo die Wahrheit siegt, freut sie sich mit.

Abgeben ganz praktisch

Da halte ich es dann lieber wie David, der in einem seiner Lieder schrieb:

Ja, Gott wird mich hören und meinen Feinden die Antwort geben, die sie verdienen – er sitzt schließlich immer noch auf dem Thron und regiert. // Sie wollen sich ja nicht ändern, und vor Gott haben sie keine Ehrfurcht.

Und schon wieder bin ich ins Alte Testament abgerutscht, ich hoffe das wird nicht zur Gewohnheit. Also dann noch ein Hinweis, darauf, wie Paulus dann ganz konkret damit umgegangen ist im 2. Timotheusbrief schreibt er:

Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses zugefügt. Der Herr wird so an ihm handeln, wie er es verdient hat.

Wir wissen nicht, was dieser Alexander genau gemacht hat. Paulus sagt es uns nicht und das muss er auch nicht. Doch was wir erfahren ist, dass er alles was dieser Alexander ihm angetan hatte, an Gott abgegeben hat. Er handelt genauso, wie er es auch der Gemeinde in Rom schrieb. Er rächt sich nicht. Er verzichtet allerdings auch nicht autmatisch auf die Gerechtigkeit, nur weil er sich in der Pflicht sieht, diesem Alexander nun zu vergeben. Gott wird ein gerechtes Urteil fällen, da ist er sich bewusst darüber. Gott wird so an ihm handeln, wie er es verdient hat. Hat er Rache verdient, so wird er sich rächen. Sollte dieser Alexander noch zur Einsicht kommen, dass seine Taten falsch waren und diese bereuen, würde Gott auch dann gerecht sein. Paulus nimmt sich raus aus dieser emotionalen Sache. Er vertraut darauf, dass Gott gerecht handeln wird.

Und nochmals ein Abstecher ins Alte Testament: Auch David lebt nämlich Feindesliebe ganz praktisch. Als ihn der König Saul verfolgte und er mit ihm in einer Höhle landete, meinte seine Männer, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, sich an ihm zu rächen. Doch was macht David? Er verschont ihn und seine Begründung gegenüber Saul war:

Heute kannst du dich mit eigenen Augen vom Gegenteil überzeugen. Hier in der Höhle hatte der Herr dich in meine Hand gegeben; meine Leute haben mir zugesetzt, dass ich dich umbringen soll. Aber ich habe dich geschont, weil ich dachte: ›Ich werde nicht Hand an meinen Gebieter legen; denn er ist der gesalbte König des Herrn.‹ Mein Vater, sieh diesen Zipfel deines Gewandes hier in meiner Hand! Ich hätte dich töten können, aber ich habe nur dieses Stück von deinem Gewand abgeschnitten. Daran musst du doch erkennen, dass ich kein Verräter bin und dir nichts Böses antun will. Ich habe dir nichts getan, und doch stellst du mir nach und willst mich umbringen. Der Herr soll Richter zwischen uns sein! Er soll dich strafen für das Unrecht, das du mir antust; aber ich selbst werde meine Hand nicht gegen dich erheben.

Das gehört für mich nicht zur Vergebung was David hier tut. Er erwähnt ja durchaus die Strafe, die Gott an ihm vollziehen wird. Doch trotz aller Umstände handelt David in guter Absicht an seinem Feind. Er hat die Kraft so zu handeln, weil Gott mit ihm war und weil er wusste, dass Gott es regeln würde. Er war bereits zum König bestimmt, doch er musste sein Recht auf den Thron nicht durch unnötiges Blutvergiessen bewirken. Darum wies er auch seine Männer zurecht, die dachten, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei diesen Saul endlich aus dem Weg zu räumen. Den Zeitpunkt dafür sollte Gott bestimmen und er würde für ihn Gerechtigkeit schaffen, dessen war sich David bewusst.

Setzt Feindesliebe denn nicht Vergebung voraus?

Oftmals kam in den Gesprächen auch das Argument, dass doch die Liebe Vergebung voraussetzen würde. Doch ist das wirklich so? Ich würde sagen, die Vergebungsbereitschaft gehört absolut dazu. Doch wie ist das mit der ausgesprochenen Vergebung oder dem Zeitpunkt in dem die Vergebungsbereitschaft zur Wirklichkeit übergeht und Vergebung  praktisch angewandt wird? Ist das wirklich zwingend notwendig um jemanden in Liebe begegnen zu können?

Hier stelle ich einfach mal eine Gegenfrage: Wenn Gott einem Menschen nicht vergibt, weil er seine Schuld nicht einsieht, liebt er ihn denn nicht? Klar liebt er ihn. Schliesslich ging er für diesen Menschen genauso ans Kreuz, wie er es für mich tat. Nur wirkt sich diese Liebe auf ihn nicht aus, weil dieser Mensch nichts mit ihm zu tun haben will. Er bekennt seine Schuld nicht, lässt nicht davon ab und empfängt deshalb auch keine Vergebung. Doch an der eigentlichen Liebe Gottes ändert das nichts. Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer:

Wir sind ja mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt worden, als wir noch seine Feinde waren. Dann kann es doch gar nicht anders sein, als dass wir durch Christus jetzt auch Rettung finden werden – jetzt, wo wir versöhnt sind und wo Christus auferstanden ist und lebt.

Wir waren Gottes Feinde und dennoch hat er uns geliebt. Seine Liebe fing schon dort an, als wir noch gegen ihn waren. Er hat alles daran gesetzt uns mit sich zu versöhnen und hat dafür sein Leben hingegeben. Wenn es also um die Feindesliebe geht, dann sollten wir uns diesen Umstand vor Augen halten. Es geht darum, diejenigen zu lieben, die sich als unsere Feinde erweisen, doch wenn wir von Feinden sprechen, so kann die Vergebung noch nicht geschehen sein.

Jesus am Kreuz

Ein weiterer Einwand, der gerne mal wieder kommt: Wie war denn das mit Jesus am Kreuz? Hat er denn dort nicht auch vergeben? Es geht dabei um Lukas 23,34:

Jesus sagte: »Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun

Ja, hat er vergeben oder hat er nicht vergeben? Ich denke primär hat er hier seinen Wunsch an den Vater geäussert, ihnen diese Schuld nicht anzurechnen. Wir müssen uns aber auch vor Augen halten, um wen es hier geht. Es geht um römische Soldaten, die keinen Schimmer hatten, wen sie da ans Kreuz schlugen. Sie befolgten die Befehle, die man ihnen gab. Der Wunsch des Sohnes, an seinen Vater, ihnen diese Schuld zu erlassen, zu vergeben zeugt von der tiefen Liebe, die er diesen Menschen gegenüber verspürte. Doch ist das im Grunde auch ein Ausdruck der Feindesliebe, denn an einer anderen Stelle sagt Jesus zu den Pharisäern und Schriftgelehrten (Lukas 5,24):

Doch ihr sollt wissen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.

Er hat die Autorität Sünden zu vergeben und doch nimmt er sich hier diese Autorität nicht. Er sagt nicht zu ihnen: Eure Sünden sind euch vergeben. Wie er es bei dem Gelähmten gemacht hatte, als er direkt zu ihm sprach und ihm seine Sünden vergab.

Wir lernen daraus, dass das Abgeben an Gott natürlich auch mit der Sehnsucht verbunden sein kann, dass gewisse Dinge den Menschen nicht angerechnet werden. Ich persönlich erlebte das immer wieder mit meinem Vater. Er hatte sich nicht unter Kontrolle, wenn er betrunken nach Hause kam. Doch ich liebte ihn und wollte auch nicht, dass er jetzt deswegen bestraft wird. Und trotzdem merkte ich gerade dort, wo keine Einsicht da war, dass es schwierig ist hier Vergebung auszusprechen. Mein Vater hat vielfach das Umfeld für seine Taten verantwortlich gemacht. Der Druck am Arbeitsplatz war schuld, dass er zuviel getrunken hat. Als er anfing selbst Verantwortung zu übernehmen und er nicht alles auf die anderen abschob, konnte ich die Vergebung auch aussprechen.

Ich denke Gott wertet es nicht, ob wir ihm unsere negativen Gedanken abgeben, ob wir ihn um ein gerechtes Eingreifen bitten, wie es die Psalmisten und Paulus taten, oder ob wir aus einer Sehnsucht vor ihn treten, dass eine Beziehung, die zu zerbrechen droht, wieder in Ordnung kommen kann und dass er gewisse Dinge nicht anrechnet, so wie es Jesus am Kreuz tat.

Schlussgedanken

Ich weiss, das Thema ist riesig und es gäbe noch so viele andere Stellen, auf die ich noch eingehen könnte. Jetzt will ich aber noch kurz einige Punkte erwähnen, warum mir das Thema so wichtig ist:

Ich habe persönlich sehr viel Druck erlebt bei diesem Thema. Die ständige Forderung in der Gemeinde, jedem Menschen vergeben zu müssen, erlebte ich nicht als Befreiung.

Erst später ging mir hier ein Licht auf, dass eine ehrliche Haltung vor Gott viel wichtiger ist, als jedem alles zu vergeben. Es war für mich ein Befreiungsschlag zu erkennen, dass Gott ein gerechter Gott ist, dem es nicht egal ist, wenn Unrecht geschieht. Ehrlich zu Gott zu kommen und ihm alles zu bringen, was mich beschäftigte war um so viel bereichender, als immer wieder von der Schule nach Hause zu kommen und denen zu vergeben, die mich ausgegrenzt und mir das Gefühl gaben nichts wert zu sein.

Daher wünsche ich mir,

  • dass wir einen Blick dafür bekommen, was Opfer durchmachen und wir ihnen nicht mit der theologischen Keule daherkommen: Wenn du nicht vergibst, vergibt dir Gott auch nicht! Das mag dort stimmen, wo das Gegenüber unsere Vergebung will und wir sie ihm verwehren, es stimmt aber nicht generell.
  • dass sich Opfer nicht unter Druck setzen lassen müssen, sondern ein befreites Christsein leben können, im Wissen darum, dass Gott auf dem Thron sitzt und in gerechter Weise regiert.
  • dass wenn ich selbst oder andere Täter sind, wir uns aufmachen und Dinge in Ordnung bringen und zumindest sagen: „Es tut mir leid.“
  • dass wir aufhören, von einer billigen Gnade, gerade auch in zwischenmenschlichen Beziehungen zu sprechen, die ohne Schuldbekenntnis auskommt.